Ich will doch alles richtig machen. Dabei vergesse ich, an meine Bedürfnisse zu denken.

Ich will doch alles richtig machen. Dabei vergesse ich, an meine Bedürfnisse zu denken.

Ich wechsel in den Kaktus-Modus und fahre meine Stacheln aus. „Egal wo ich anfange, egal wie viel ich am Tag schaffe, es nimmt einfach kein Ende“, maule ich meinen Mann an, der gerade mit einem großen Altkleidersack die Treppe heruntergeht. Ich weiß, ich bin unfair, ich kann aber nicht anders. Genervt kicke ich die Kartons beiseite, über die ich ständig stolpere. Ein Klirren ertönt und lässt mich nichts Gutes ahnen. Ich schaue hinein und ein für mich ungewöhnlicher Fluch verlässt meine Lippen. Die Scherben einer Vase zieren nun den kompletten Kartoninhalt. Ich könnte heulen. Noch mehr Arbeit, nochmal von vorn.

Ich lehne mich an eine Wand und lasse die Erdanziehungskraft auf mich wirken. Meine Knie werden weich, ich gleite nach unten und lande auf dem Hosenboden. Automatisch strecke ich meine Beine aus und merke, wie kalt die Fliesen doch sind. Ich schaue mich um. Kartons und Verpackungsmaterial aller Art sind meine Nachbarn und meine Rettung zugleich. Nur eine Armlänge entfernt liegt eine Umzugsdecke. Zufrieden, etwas gefunden zu haben, wickele ich mich in die Decke ein und schiebe den Rest unter meinen Hintern. Bis in die Knochen hinein merke ich eine tiefe Überforderung in mir schlummern, die jetzt laut zu vibrieren anfängt. Ich komme mir vor wie ein kaputter Wasserhahn, der sich nicht mehr zudrehen lässt. Ein Fluss von Tränen fließt mir über die Wangen. Ich versuche, einen Gedanken zu fassen, aber mein Kopf ist komplett aus Watte. Eine bleierne Müdigkeit breitet sich in mir aus. Mein Verstand entscheidet sich für den Beifahrersitz und übergibt dem Körper das Steuer. Endlich erlaube ich mir, meinen Kopf in den Nacken zu legen und erschöpft die nassen Augen zu schließen.

Wie aus dem Nichts bin ich am Strand. Die Sonne kitzelt mein Gesicht, die Möwen singen schwebend im Wind. Diese blaue Weite, die ich unendlich liebe, breitet sich in all ihrer Farbenpracht vor mir aus. Spontan ziehe ich meine Schuhe aus. Ich renne, so schnell ich kann. Meine Füße versinken dabei im Sand und lassen mich kichern. Ich kämpfe mich bis zum Wasser vor und bleibe stehen. In meinen Zehen kribbelt es schon, gleich kommt die nächste Welle. Wie sie sich wohl anfühlen mag?

Erschrocken zucke ich zusammen, weil ich eine kalte Hand auf meiner Stirn spüre. Sofort reiße die Augen auf und bin so weit weg vom blauen Meer wie nie zuvor. Auf einem alten Kissen sitzt mir mein Mann gegenüber, wärmt sich die kalten Finger an einer Tasse und schaut mich musternd an. „Habe ich geschlafen?“, frage ich ihn verwirrt. Tausend kleine Nadeln veranstalten in meinem Bein eine lustige Party, ich hasse dieses Gefühl. „Eine gute Stunde“, antwortet er und nimmt einen Schluck aus seiner Tasse. Ein wohltuender Zimtduft breitet sich vor meiner Nase aus. Ganz selbstverständlich strecke ich meinen Kopf Richtung Getränk und verlange ohne Worte nach einem Schluck. „Vorsicht, heiß“, sagt er ruhig und lässt mich kosten. „Genau richtig jetzt“, antworte ich, nachdem meine Zunge einen Luftsprung gemacht hat. Apfelsaft mit Zimt ist ein perfektes Trostpflaster.

Ich habe mir früher geschworen, nie wieder so an die Grenze zu gehen. Jetzt sitze ich hier und ärgere mich über mich selbst. Ich habe versagt. Wobei ich mir nicht ganz sicher bin, was mich mehr ärgert. Das Gefühl, mich wie eine Versagerin zu fühlen oder überhaupt der Gedanke, ich hätte versagt. Ich muss es doch besser wissen. Mein Draht zu mir selbst ist ein Guter, und trotzdem schaffte ich es nicht, einen kühlen Kopf in der Hitze des Gefechtes zu bewahren. Ich will doch alles richtig machen. Besessen davon, ignorierte ich meinen viel zu leeren Akku bis zur gnadenlosen Erschöpfung. Jetzt fühle ich meinen Körper und wage eine Annäherung. Still bedanke ich mich bei ihm, weil er mich in die Knie gezwungen hat. Ich wollte Ergebnisse, am besten sofort und per Knopfdruck. „Das Gras wächst nicht schneller, wenn man daran zieht“, schießt mir in den Kopf. Ich stecke doch schon mitten im Prozess. Muss ich mich so auspressen? Ich gebe nach und nehme an.

Der Kampf hat seinen Sinn verloren. Diese Erkenntnis lässt mich mindestens 10 Kilo leichter fühlen. Ich nehme einen weiteren Schluck Apfelsaft, seufze tief und gebe zu: „Manchmal stehe ich mir selbst im Weg“. Mein Mann kennt mich auswendig, für ihn bin ich ein offenes Buch. Wir lächeln uns an und wissen beide, mein Kaktus-Modus ist endlich vorbei. Er war auch völlig unnötig. Nein, das ist schon wieder falsch. Ich habe genau diesen Zustand gebraucht, um wieder zu mir selbst zu finden. Meine Wut und mein Frust waren wichtige Lektionen, um klarer zu sehen. Ich weiß jetzt, dass ich auch ohne meine Stacheln dem Ziel näher kommen kann. Dabei brauche ich nicht so viel Energie zu opfern, wenn ich die Dinge mehr fließen lasse. So komme auch ich selbst in den Fluss. Und dann ist es fast so, wie am Meer spazieren zu gehen.

Autorin: Lisa Marie Albrecht
Datum: 17.03.2024

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Künstliche Intelligenz kann nicht an Burnout erkranken. Wir, im Kampf gegen sie, schon. Manchmal sehe ich den Wald vor lauter Bäumen nicht. Das Leben ist kein Wünsch-Dir-Was. Habe ich gehört. Diesen Moment mit meiner Familie werde ich bis zum letzten Tag in meinem Herzen tragen. Ich weiß noch nicht, wohin die Reise geht. Aber sie hat begonnen. Ich fühlte mich schon immer anders, aber an diesem Tag ganz besonders.